Vielfältige Beziehungen
2024, Angelica Horn/Philosophin, Frankfurt am Main
[...] Thyra Schmidt hat Fotos aus dem Familienalbum im Siebdruck reproduziert und zeigt in dieser Ausstellung zwei Blätter aus der Serie „IHR“ (2022/2023, je 55,7 × 72 cm). „Ihr“, das sind die Vorfahren, aus deren Zeit die Fotos stammen, aus den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Das eine Foto zeigt Leute, die sich froh und stolz in und an einem Auto befinden, sonntäglich bekleidet. Sie schauen fast alle nach rechts (dort gibt es also etwas zu sehen); ein Mann, der mit verschränkten Armen am Auto lehnt, sich selbst präsentierend und repräsentierend, schaut direkt auf den Fotografierenden; wir dürfen in ihm den Besitzer des Autos vermuten. Die Treffen dieser Menschen, das Ereignis, das beobachtet wird, das Auto, das alles war offensichtlich etwas Besonderes.
Im zweiten der roten Siebdrucke sehen wir Pferde. Links das Hinterteil eines solchen, rechts fast die Hälfte des Bildes ausfüllend den vorderen Teil eines Pferdes, auf dem ein Jockey sitzt, dessen Kopf wir aber nicht sehen können. Hinten im Mittelteil des Bildes sehen wir eine Gesellschaft von Menschen, es gibt Bänke zum Sitzen, hinten stehen Bäume und vorne ist eine große Fläche mit Rasen bedeckt. Verknüpfen wir die Erzählungen der beiden Bilder miteinander, so dürfte es sich bei dem zu sehenden Ereignis des einen das Pferderennen des anderen sein. Die Wiedergabe der Fotos in rotem Siebdruck schafft nicht nur autonome künstlerische Werke, sie erzeugt zudem eine Dialektik von Erinnerung und Präsenz. Der einfarbige Siebdruck distanziert einerseits von dem Foto und damit von der fotografierten Realität. Andererseits rückt aber gerade dadurch diese Realität näher und wird sogar direkter erlebt – im Sinne einer Erinnerung und sei es eine Erinnerung an etwas, was wir selbst nicht erlebt haben.
Unterhalb des ersten Siebdruckes befindet sich an der Stirnwand des Raumes eine Videoprojektion einer Textsequenz (Text der Künstlerin, 1:09 min, 2022/2023), die mit den Worten „Das kenne ich nicht.“ beginnt. Einzelne Aussagen sind in einer Abfolge genau geordnet an verschiedenen Orten der Wandfläche zu sehen und zu lesen – das Ganze endet mit einer rapiden Sequenz in einer Senkrechten. Text ist hier zugleich Bild und zeitlich geordnete Struktur. Der Betrachter kann sich von dem Text, an jeder seiner Stellen, persönlich angesprochen fühlen (z.B. „Wo bist Du?“); es liegt ganz an ihm, ob er das tut, oder ob er den Textablauf als in sich autonomes Gebilde, wie ein solches etwa in einem Gedicht vorliegt, nimmt. Es handelt sich hier um ein offenes Beziehungsgeschehen, das durch die Worte und deren Anordnung und Ablauf bestimmt, nicht aber eindeutig festgelegt ist. Da es sich um einen Loop handelt, besteht die Möglichkeit, sich das Textgeschehen wiederholt anzuschauen, wiederholt die eigene Erfahrung mit ihm zu machen, den Ablauf und den Zusammenhang zu reflektieren. Es endet mit dem Stakkato: „JUST IN DEM MO MENT BIST DU NICHT DA“. [...]
Textauszug: © Angelica Horn, Vielfältige Beziehungen. Zur Ausstellung von Thyra Schmidt und Christina Kral in der Reihe „“ des Studiospace Langestraße Frankfurt, 2024. Der vollständige Text ist veröffentlicht auf der Website Studiospace Langestrasse 31
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Vielfältige Beziehungen
2024, Angelica Horn/Philosophin, Frankfurt am Main
[...] Thyra Schmidt hat Fotos aus dem Familienalbum im Siebdruck reproduziert und zeigt in dieser Ausstellung zwei Blätter aus der Serie „IHR“ (2022/2023, je 55,7 × 72 cm). „Ihr“, das sind die Vorfahren, aus deren Zeit die Fotos stammen, aus den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Das eine Foto zeigt Leute, die sich froh und stolz in und an einem Auto befinden, sonntäglich bekleidet. Sie schauen fast alle nach rechts (dort gibt es also etwas zu sehen); ein Mann, der mit verschränkten Armen am Auto lehnt, sich selbst präsentierend und repräsentierend, schaut direkt auf den Fotografierenden; wir dürfen in ihm den Besitzer des Autos vermuten. Die Treffen dieser Menschen, das Ereignis, das beobachtet wird, das Auto, das alles war offensichtlich etwas Besonderes.
Im zweiten der roten Siebdrucke sehen wir Pferde. Links das Hinterteil eines solchen, rechts fast die Hälfte des Bildes ausfüllend den vorderen Teil eines Pferdes, auf dem ein Jockey sitzt, dessen Kopf wir aber nicht sehen können. Hinten im Mittelteil des Bildes sehen wir eine Gesellschaft von Menschen, es gibt Bänke zum Sitzen, hinten stehen Bäume und vorne ist eine große Fläche mit Rasen bedeckt. Verknüpfen wir die Erzählungen der beiden Bilder miteinander, so dürfte es sich bei dem zu sehenden Ereignis des einen das Pferderennen des anderen sein. Die Wiedergabe der Fotos in rotem Siebdruck schafft nicht nur autonome künstlerische Werke, sie erzeugt zudem eine Dialektik von Erinnerung und Präsenz. Der einfarbige Siebdruck distanziert einerseits von dem Foto und damit von der fotografierten Realität. Andererseits rückt aber gerade dadurch diese Realität näher und wird sogar direkter erlebt – im Sinne einer Erinnerung und sei es eine Erinnerung an etwas, was wir selbst nicht erlebt haben.
Unterhalb des ersten Siebdruckes befindet sich an der Stirnwand des Raumes eine Videoprojektion einer Textsequenz (Text der Künstlerin, 1:09 min, 2022/2023), die mit den Worten „Das kenne ich nicht.“ beginnt. Einzelne Aussagen sind in einer Abfolge genau geordnet an verschiedenen Orten der Wandfläche zu sehen und zu lesen – das Ganze endet mit einer rapiden Sequenz in einer Senkrechten. Text ist hier zugleich Bild und zeitlich geordnete Struktur. Der Betrachter kann sich von dem Text, an jeder seiner Stellen, persönlich angesprochen fühlen (z.B. „Wo bist Du?“); es liegt ganz an ihm, ob er das tut, oder ob er den Textablauf als in sich autonomes Gebilde, wie ein solches etwa in einem Gedicht vorliegt, nimmt. Es handelt sich hier um ein offenes Beziehungsgeschehen, das durch die Worte und deren Anordnung und Ablauf bestimmt, nicht aber eindeutig festgelegt ist. Da es sich um einen Loop handelt, besteht die Möglichkeit, sich das Textgeschehen wiederholt anzuschauen, wiederholt die eigene Erfahrung mit ihm zu machen, den Ablauf und den Zusammenhang zu reflektieren. Es endet mit dem Stakkato: „JUST IN DEM MO MENT BIST DU NICHT DA“. [...]
Textauszug: © Angelica Horn, Vielfältige Beziehungen. Zur Ausstellung von Thyra Schmidt und Christina Kral in der Reihe „“ des Studiospace Langestraße Frankfurt, 2024. Der vollständige Text ist veröffentlicht auf der Website Studiospace Langestrasse 31
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