Kunstform Schnittblume. Eine Ermunterung
2020, Sebastian Olma/Kultursoziologe, Amsterdam
Pflanze, Kunst, Gesellschaft
Während im Zuge etwa des neuen Materialismus oder der Anthropozändebatte Pflanzen wieder vermehrt Einzug in die zeitgenössische Kunst halten, bleibt der Schnittblume der Zutritt zu den seriösen Räumen des Kunstbetriebs oft verwehrt. Sie mag gelegentlich den Raum dekorieren, aber als Kunstform hat die Schnittblume einen miserablen Ruf. Die folgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, eine Neubestimmung der Funktion der Schnittblume in der zeitgenössischen Kunst anzuregen. Dabei soll es weniger um die Schnittblume als Motiv oder Kunstwerk im herkömmlichen Sinne gehen, sondern vielmehr untersucht werden, inwieweit die Schnittblume als objektiv-beobachtende Teilnehmerin am gesellschaftlichen Geschehen der Kunst neue Perspektiven erschließen kann.
Moderne und Umgebung
Begreift man die Moderne – wie beispielsweise Peter Sloterdijk dies in seiner Sphärentrilogie tut – als einen Prozess der fortschreitenden Domestikation des Menschen, dann avanciert die Schnittblume auf eine zentrale Position im Inneren des modernen locus vivendi. In dieser Version der Moderneerzählung tritt der Wohnort aus dem Hintergrund des Lebens ins Rampenlicht des sozialen Geschehens. Wohnen bildet in zunehmendem Maße die Bühne, auf der sich „die Explikation des menschlichen Aufenthalts in menschengemachten Interieurs“[1] vollzieht. Sloterdijk führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Umweltumkehrung“[2] ein: die „natürliche“ Situation, in der der Mensch das Umgebene und die Umwelt das Umgebende ist, kehrt sich in dem Sinne um, dass nun der Mensch seine Umgebung selbst entwirft und einrichtet.
Die Schnittblume ist ein frühes Produkt dieser Umweltumkehrung und wird im weiteren Verlauf sowohl zur Ikone als auch zur Beobachterin der Herausformung eines Wohnorts, der einen radikalen Bruch mit der Sesshaftigkeit der agrarisch geprägten Lebenswelt vollzieht. Sie wird zur Ikone, weil sie die positive Interpretation der Bodenlosigkeit des modernen Lebens verkörpert, durch die der „Begriff der Entwurzelung [...] einen hellen Klang“[3] erhält. Und sie wird Beobachterin, da mit der Entwurzelung des sozialen Lebens ein Gewinn an Abstand und Geschwindigkeit verbunden ist, durch den Reflexion erst möglich wird: „Man kann heute gelassen aussprechen, dass das Leben in der Sedentarität zu langsam, zu sehr in sich eingekrümmt und zu sehr am Leitbild der Pflanze orientiert war, um sich zu seinen Formen des Wohnens mit der für theoretische Erkenntnis unentbehrlichen Deterritorialisiertheit äußern zu können.“[4] Dem ist nur insoweit zu widersprechen, als die Schnittblume eben einen Sonderfall dieser Entwicklung darstellt, da ihr erst in der deterritorialisierenden Umweltumkehrung ein eigenes Beobachtungsmilieu geschaffen wird und sie als einziges Gewächs die progressive Entwurzelung des Menschen nachvollzieht.
Drinnen ohne draußen
Der niederländische Biologe Arjen Mulder hat unlängst einen Essay vorgelegt, in dem er die Gegenwart Aus der Sicht der Pflanze (so der Titel des Buches) betrachtet.[5] Inspiriert nicht zuletzt durch die etwas obskuren, aber nach wie vor überaus lesenswerten Betrachtungen, die der Begründer der Psychophysik, Gustav Theodor Fechner, im Jahre 1848 unter dem Titel Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen publizierte, ermuntert Mulder uns, der pflanzlichen Perspektive auf das Leben mehr Beachtung zu schenken. Dabei geht er auch auf die Rolle der Zimmerpflanze ein, die zumindest als enge Verwandte der Schnittblume gelten dürfte. „Die Aufgabe der Zimmerpflanze“, so Mulder, „ist das Verbinden von drinnen und draußen, des Häuslichen mit dem Wilden, des Wohnzimmers mit der frischen Luft, der schmalen Stadtgasse mit dem weitläufigen Ackerland, dieser vegetativen Domäne, deren Negation und Spiegelung das städtische Leben formen.“[6] Die pflanzliche Mitbewohnerin wird hier verstanden als eine „Kunstform“[7], die den Stadtbewohnern die natürlichen Grundlagen ihres urbanen Lebens immer wieder vor Augen führt.
Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang unmittelbar die Frage, wie effektiv die zimmerpflanzlich induzierte Reflexion auf die Natur oder den – wie man im Zeitalter des Anthropozän wohl formulieren muss – Zustand unseres Planeten derzeit noch ist. Der US-amerikanische Künstler und Gesellschaftsforscher Brian Holmes meldete sich vor einiger Zeit eindrucksvoll mit der These zu Wort, dass Städte heute zunehmend die Funktion von Deflektoren übernehmen, die ihren Bewohnern die Sicht auf die katastrophalen Folgen des kapitalistischen Raubbaus an unserem Planeten erfolgreich verstellen.[8] Der extraktive Finanzkapitalismus funktioniert Holmes zufolge vor allem deshalb so reibungslos, weil er die Vernichtung lebenswichtiger Ressourcen direkt an den Aufbau einer Interface-Ästhetik koppelt, die zwischen Realität und Usern einen digitalen Hiatus konstruiert. Städte erfüllen in diesem System die Rolle gigantischer urban screens: sie generieren ein flächendeckendes Netzwerk, bestehend aus Smartphones, Tablets und ähnlichen Aufmerksamkeitsvampiren, die einen an-ästhetischen Schutzschirm formen, der dem städtischen Leben das Bewusstsein seiner Verantwortung für die Vernichtung des Planeten vom Leibe hält. Gegen ein derart smartes System ideologisch-technischer Betäubung ist kein Kraut – und sicherlich auch keine Zimmerpflanze – gewachsen. Wir befinden uns tatsächlich im „Weltinnenraum des Kapitals“[9]; jedoch wird dieser im Zuge der Digitalisierung zu einem absurden Raum der Selbstzerstörung.
Leben im Absurden
Über das absurde Leben liefert der Philosoph Vilém Flusser am Beginn seiner Autobiografie folgende hellsichtige Überlegungen:
„Das Wort ‚absurd‘ bedeutet ursprünglich ‚bodenlos‘, im Sinne von ‚ohne Wurzel‘. Etwa wie eine Pflanze bodenlos ist, wenn man sie pflückt, um sie in eine Vase zu stellen. Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Blumen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten
Blumen ist die Stimmung des absurden Lebens.“[10]
Flussers Metapher bezieht sich auf die persönliche Erfahrung eines von Emigration geprägten Lebens. Im 21. Jahrhundert hat sich diese Erfahrung auf erschreckende Weise verallgemeinert. Migration infolge von Krieg und Umweltzerstörung ist zu einem Massenphänomen geworden. Bis dato ist die Menschheit nicht in der Lage, dieser globalen Herausforderung entschlossen und effektiv entgegenzutreten. Glaubt man dem Technologiephilosophen Bernard Stiegler, dann ist dies vor allem eine Folge der Selbstentwurzelung der Menschheit, die eine traurige Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ist. Durch die toxische Verbindung von Technologie und Kapitalismus droht der Mensch zu einem absurden Anhängsel eines Systems zu werden, über das er selbst die Kontrolle verloren hat.[11]
Resonanz durch Stilllegung
Die Umkehr dieses Kontrollverlusts stellt die derzeit größte Herausforderung der Menschheit dar. Interessanterweise eröffnet sich im Zuge der Covid-19-Pandemie dafür eine überaus günstige Gelegenheit. Wie der Soziologe Hartmut Rosa beobachtet, demonstriert die Krise nämlich etwas, das in den vergangenen Jahrzehnten des rastlosen Neoliberalismus zunehmend unmöglich erschien: das ökonomische Primat von Wachstum und Beschleunigung wird von der Politik unterbrochen.[12] Unsere Gesellschaften legen sich wirtschaftlich still, weil die Sorge um das Wohlergehen der Bevölkerung dies erforderlich macht. Rosa spricht in diesem Zusammenhang von einem erfolgreichen Ausbilden von „Resonanz“[13], was wir umgangssprachlich vielleicht als sinnstiftende Beziehung zur Welt bezeichnen können. Wir stürmen nicht mehr besessen ins Nirgendwo, sondern spüren plötzlich wieder den Boden unter unseren Füßen. Natürlich müssen wir akzeptieren, dass es sich bei dieser potenziell sinnstiftenden Stilllegung erst einmal um einen Ausnahmezustand handelt, nach dessen Ende es durchaus back to business as usual gehen könnte. Allerdings erinnern Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach daran, dass Ausnahmezustände infolge von Naturkatastrophen sehr wohl dazu in der Lage sind, Spuren in der Gesellschaftsentwicklung zu hinterlassen. Das gewaltige Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 beispielsweise erschütterte das ideologisch-religiöse Fundament des Mittelalters so nachhaltig, dass von ihm ein wichtiger Impuls für die Aufklärung ausging. Voltaire verlor nach dem Beben bekanntlich das letzte Vertrauen in die „Güte Gottes“ und auch viele seiner Zeitgenossen mussten einsehen: „Gott taugte als Baugrund nicht mehr.“[14]
Wurzeln in der Zukunft
Laut Kant bedeutete Aufklärung den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Aufgabe, mit der sich die nachpandemische Welt konfrontiert sieht, scheint mir vor allem darin zu bestehen, das Bewusstsein von der Machbarkeit der Stilllegung des sinnfreien Rasens und Wachsens in eine nachhaltige Rückkehr auf den sinnstiftenden Boden der Tatsachen zu überführen.[15] Es geht um die Wiedergewinnung dessen, was Rosa Resonanz nennt und was das genaue Gegenteil der kollektiven Betäubung ist, der wir uns im Weltinnenraum des Kapitals ausgesetzt sehen. Aufklärerisches Handeln im 21. Jahrhundert muss darauf gerichtet sein, die herrschende An-Ästhetik in eine Ästhetik zu überführen, die in der Lage ist, uns aus dem Nihilismus dieser „automatischen Gesellschaft“[16] zu befreien.
Es sollte klar sein, dass die Kunst dabei eine wichtige Rolle zu spielen hat. Womit auch die Schnittblume wieder in den Blick rückt. Denn es geht keineswegs um eine Rekonstruktion der Kunst als ethische oder politische Agitation. Was die Schnittblume mit dem zeitgenössischen Menschen gemein hat, ist in der Tat der Drang, „Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben“. Die Schnittblume könnte dabei zu einer Zeugin der Rückgewinnung und Neuerfindung von Formen ästhetischer Resonanz werden, mit denen es der Menschheit gelingt, Wurzeln in den Boden einer wünschenswerten Zukunft zu schlagen.
[1] Sloterdijk, Peter (2004) Sphären III: Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 504.
[2] Ebd., S. 331.
[3] Ebd., S. 506.
[4] Ebd.
[5] Mulder, Arjen (2019) Vanuit de plant gezien. Pleidooi voor een plantaardige planeet, Amsterdam: De Arbeiderspers.
[6] Ebd., S. 27–28, Übersetzung des Verfassers.
[7] Ebd., S. 26, Übersetzung des Verfassers.
[8] Holmes, Brian (2017) „Driving the Golden Spike. The Aesthetics of Anthropocene Public Space“, e-flux #85, October, URL: https://www.e-flux.com/journal/85/156774/driving-the-golden-spike/.
[9] Sloterdijk, Peter (2005) Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
[10] Flusser, Vilém (1992) Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf: Bollmann, S. 9.
[11] Stiegler, Bernard (1994) La technique et le temps. 1, La faute d’Epiméthée, Paris: Galilée.
[12] Schönfelder, Ute (2020) „Wir können das Hamsterrad anhalten“, Interview mit Hartmut Rosa auf der Nachrichtenseite der Universität Jena: https://www.uni-jena.de/200403-rosa-interview.
[13] Rosa, Hartmut (2016) Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp.
[14] Von Schirach, Ferdinand und Kluge, Alexander (2020) Trotzdem, München: Luchterhand, S. 50–51.
[15] Siehe hierzu auch: Latour, Bruno (2018) Das terrestrische Manifest, Berlin: Suhrkamp.
[16] Stiegler, Bernard (2015) La société automatique. 1, L'avenir du travail, Paris: Fayard.
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Kunstform Schnittblume. Eine Ermunterung
2020, Sebastian Olma/Kultursoziologe, Amsterdam
Pflanze, Kunst, Gesellschaft
Während im Zuge etwa des neuen Materialismus oder der Anthropozändebatte Pflanzen wieder vermehrt Einzug in die zeitgenössische Kunst halten, bleibt der Schnittblume der Zutritt zu den seriösen Räumen des Kunstbetriebs oft verwehrt. Sie mag gelegentlich den Raum dekorieren, aber als Kunstform hat die Schnittblume einen miserablen Ruf. Die folgenden Überlegungen stellen den Versuch dar, eine Neubestimmung der Funktion der Schnittblume in der zeitgenössischen Kunst anzuregen. Dabei soll es weniger um die Schnittblume als Motiv oder Kunstwerk im herkömmlichen Sinne gehen, sondern vielmehr untersucht werden, inwieweit die Schnittblume als objektiv-beobachtende Teilnehmerin am gesellschaftlichen Geschehen der Kunst neue Perspektiven erschließen kann.
Moderne und Umgebung
Begreift man die Moderne – wie beispielsweise Peter Sloterdijk dies in seiner Sphärentrilogie tut – als einen Prozess der fortschreitenden Domestikation des Menschen, dann avanciert die Schnittblume auf eine zentrale Position im Inneren des modernen locus vivendi. In dieser Version der Moderneerzählung tritt der Wohnort aus dem Hintergrund des Lebens ins Rampenlicht des sozialen Geschehens. Wohnen bildet in zunehmendem Maße die Bühne, auf der sich „die Explikation des menschlichen Aufenthalts in menschengemachten Interieurs“[1] vollzieht. Sloterdijk führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Umweltumkehrung“[2] ein: die „natürliche“ Situation, in der der Mensch das Umgebene und die Umwelt das Umgebende ist, kehrt sich in dem Sinne um, dass nun der Mensch seine Umgebung selbst entwirft und einrichtet.
Die Schnittblume ist ein frühes Produkt dieser Umweltumkehrung und wird im weiteren Verlauf sowohl zur Ikone als auch zur Beobachterin der Herausformung eines Wohnorts, der einen radikalen Bruch mit der Sesshaftigkeit der agrarisch geprägten Lebenswelt vollzieht. Sie wird zur Ikone, weil sie die positive Interpretation der Bodenlosigkeit des modernen Lebens verkörpert, durch die der „Begriff der Entwurzelung [...] einen hellen Klang“[3] erhält. Und sie wird Beobachterin, da mit der Entwurzelung des sozialen Lebens ein Gewinn an Abstand und Geschwindigkeit verbunden ist, durch den Reflexion erst möglich wird: „Man kann heute gelassen aussprechen, dass das Leben in der Sedentarität zu langsam, zu sehr in sich eingekrümmt und zu sehr am Leitbild der Pflanze orientiert war, um sich zu seinen Formen des Wohnens mit der für theoretische Erkenntnis unentbehrlichen Deterritorialisiertheit äußern zu können.“[4] Dem ist nur insoweit zu widersprechen, als die Schnittblume eben einen Sonderfall dieser Entwicklung darstellt, da ihr erst in der deterritorialisierenden Umweltumkehrung ein eigenes Beobachtungsmilieu geschaffen wird und sie als einziges Gewächs die progressive Entwurzelung des Menschen nachvollzieht.
Drinnen ohne draußen
Der niederländische Biologe Arjen Mulder hat unlängst einen Essay vorgelegt, in dem er die Gegenwart Aus der Sicht der Pflanze (so der Titel des Buches) betrachtet.[5] Inspiriert nicht zuletzt durch die etwas obskuren, aber nach wie vor überaus lesenswerten Betrachtungen, die der Begründer der Psychophysik, Gustav Theodor Fechner, im Jahre 1848 unter dem Titel Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen publizierte, ermuntert Mulder uns, der pflanzlichen Perspektive auf das Leben mehr Beachtung zu schenken. Dabei geht er auch auf die Rolle der Zimmerpflanze ein, die zumindest als enge Verwandte der Schnittblume gelten dürfte. „Die Aufgabe der Zimmerpflanze“, so Mulder, „ist das Verbinden von drinnen und draußen, des Häuslichen mit dem Wilden, des Wohnzimmers mit der frischen Luft, der schmalen Stadtgasse mit dem weitläufigen Ackerland, dieser vegetativen Domäne, deren Negation und Spiegelung das städtische Leben formen.“[6] Die pflanzliche Mitbewohnerin wird hier verstanden als eine „Kunstform“[7], die den Stadtbewohnern die natürlichen Grundlagen ihres urbanen Lebens immer wieder vor Augen führt.
Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang unmittelbar die Frage, wie effektiv die zimmerpflanzlich induzierte Reflexion auf die Natur oder den – wie man im Zeitalter des Anthropozän wohl formulieren muss – Zustand unseres Planeten derzeit noch ist. Der US-amerikanische Künstler und Gesellschaftsforscher Brian Holmes meldete sich vor einiger Zeit eindrucksvoll mit der These zu Wort, dass Städte heute zunehmend die Funktion von Deflektoren übernehmen, die ihren Bewohnern die Sicht auf die katastrophalen Folgen des kapitalistischen Raubbaus an unserem Planeten erfolgreich verstellen.[8] Der extraktive Finanzkapitalismus funktioniert Holmes zufolge vor allem deshalb so reibungslos, weil er die Vernichtung lebenswichtiger Ressourcen direkt an den Aufbau einer Interface-Ästhetik koppelt, die zwischen Realität und Usern einen digitalen Hiatus konstruiert. Städte erfüllen in diesem System die Rolle gigantischer urban screens: sie generieren ein flächendeckendes Netzwerk, bestehend aus Smartphones, Tablets und ähnlichen Aufmerksamkeitsvampiren, die einen an-ästhetischen Schutzschirm formen, der dem städtischen Leben das Bewusstsein seiner Verantwortung für die Vernichtung des Planeten vom Leibe hält. Gegen ein derart smartes System ideologisch-technischer Betäubung ist kein Kraut – und sicherlich auch keine Zimmerpflanze – gewachsen. Wir befinden uns tatsächlich im „Weltinnenraum des Kapitals“[9]; jedoch wird dieser im Zuge der Digitalisierung zu einem absurden Raum der Selbstzerstörung.
Leben im Absurden
Über das absurde Leben liefert der Philosoph Vilém Flusser am Beginn seiner Autobiografie folgende hellsichtige Überlegungen:
„Das Wort ‚absurd‘ bedeutet ursprünglich ‚bodenlos‘, im Sinne von ‚ohne Wurzel‘. Etwa wie eine Pflanze bodenlos ist, wenn man sie pflückt, um sie in eine Vase zu stellen. Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Blumen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten
Blumen ist die Stimmung des absurden Lebens.“[10]
Flussers Metapher bezieht sich auf die persönliche Erfahrung eines von Emigration geprägten Lebens. Im 21. Jahrhundert hat sich diese Erfahrung auf erschreckende Weise verallgemeinert. Migration infolge von Krieg und Umweltzerstörung ist zu einem Massenphänomen geworden. Bis dato ist die Menschheit nicht in der Lage, dieser globalen Herausforderung entschlossen und effektiv entgegenzutreten. Glaubt man dem Technologiephilosophen Bernard Stiegler, dann ist dies vor allem eine Folge der Selbstentwurzelung der Menschheit, die eine traurige Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ist. Durch die toxische Verbindung von Technologie und Kapitalismus droht der Mensch zu einem absurden Anhängsel eines Systems zu werden, über das er selbst die Kontrolle verloren hat.[11]
Resonanz durch Stilllegung
Die Umkehr dieses Kontrollverlusts stellt die derzeit größte Herausforderung der Menschheit dar. Interessanterweise eröffnet sich im Zuge der Covid-19-Pandemie dafür eine überaus günstige Gelegenheit. Wie der Soziologe Hartmut Rosa beobachtet, demonstriert die Krise nämlich etwas, das in den vergangenen Jahrzehnten des rastlosen Neoliberalismus zunehmend unmöglich erschien: das ökonomische Primat von Wachstum und Beschleunigung wird von der Politik unterbrochen.[12] Unsere Gesellschaften legen sich wirtschaftlich still, weil die Sorge um das Wohlergehen der Bevölkerung dies erforderlich macht. Rosa spricht in diesem Zusammenhang von einem erfolgreichen Ausbilden von „Resonanz“[13], was wir umgangssprachlich vielleicht als sinnstiftende Beziehung zur Welt bezeichnen können. Wir stürmen nicht mehr besessen ins Nirgendwo, sondern spüren plötzlich wieder den Boden unter unseren Füßen. Natürlich müssen wir akzeptieren, dass es sich bei dieser potenziell sinnstiftenden Stilllegung erst einmal um einen Ausnahmezustand handelt, nach dessen Ende es durchaus back to business as usual gehen könnte. Allerdings erinnern Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach daran, dass Ausnahmezustände infolge von Naturkatastrophen sehr wohl dazu in der Lage sind, Spuren in der Gesellschaftsentwicklung zu hinterlassen. Das gewaltige Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 beispielsweise erschütterte das ideologisch-religiöse Fundament des Mittelalters so nachhaltig, dass von ihm ein wichtiger Impuls für die Aufklärung ausging. Voltaire verlor nach dem Beben bekanntlich das letzte Vertrauen in die „Güte Gottes“ und auch viele seiner Zeitgenossen mussten einsehen: „Gott taugte als Baugrund nicht mehr.“[14]
Wurzeln in der Zukunft
Laut Kant bedeutete Aufklärung den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Aufgabe, mit der sich die nachpandemische Welt konfrontiert sieht, scheint mir vor allem darin zu bestehen, das Bewusstsein von der Machbarkeit der Stilllegung des sinnfreien Rasens und Wachsens in eine nachhaltige Rückkehr auf den sinnstiftenden Boden der Tatsachen zu überführen.[15] Es geht um die Wiedergewinnung dessen, was Rosa Resonanz nennt und was das genaue Gegenteil der kollektiven Betäubung ist, der wir uns im Weltinnenraum des Kapitals ausgesetzt sehen. Aufklärerisches Handeln im 21. Jahrhundert muss darauf gerichtet sein, die herrschende An-Ästhetik in eine Ästhetik zu überführen, die in der Lage ist, uns aus dem Nihilismus dieser „automatischen Gesellschaft“[16] zu befreien.
Es sollte klar sein, dass die Kunst dabei eine wichtige Rolle zu spielen hat. Womit auch die Schnittblume wieder in den Blick rückt. Denn es geht keineswegs um eine Rekonstruktion der Kunst als ethische oder politische Agitation. Was die Schnittblume mit dem zeitgenössischen Menschen gemein hat, ist in der Tat der Drang, „Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben“. Die Schnittblume könnte dabei zu einer Zeugin der Rückgewinnung und Neuerfindung von Formen ästhetischer Resonanz werden, mit denen es der Menschheit gelingt, Wurzeln in den Boden einer wünschenswerten Zukunft zu schlagen.
[1] Sloterdijk, Peter (2004) Sphären III: Schäume, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 504.
[2] Ebd., S. 331.
[3] Ebd., S. 506.
[4] Ebd.
[5] Mulder, Arjen (2019) Vanuit de plant gezien. Pleidooi voor een plantaardige planeet, Amsterdam: De Arbeiderspers.
[6] Ebd., S. 27–28, Übersetzung des Verfassers.
[7] Ebd., S. 26, Übersetzung des Verfassers.
[8] Holmes, Brian (2017) „Driving the Golden Spike. The Aesthetics of Anthropocene Public Space“, e-flux #85, October, URL: https://www.e-flux.com/journal/85/156774/driving-the-golden-spike/.
[9] Sloterdijk, Peter (2005) Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
[10] Flusser, Vilém (1992) Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Düsseldorf: Bollmann, S. 9.
[11] Stiegler, Bernard (1994) La technique et le temps. 1, La faute d’Epiméthée, Paris: Galilée.
[12] Schönfelder, Ute (2020) „Wir können das Hamsterrad anhalten“, Interview mit Hartmut Rosa auf der Nachrichtenseite der Universität Jena: https://www.uni-jena.de/200403-rosa-interview.
[13] Rosa, Hartmut (2016) Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp.
[14] Von Schirach, Ferdinand und Kluge, Alexander (2020) Trotzdem, München: Luchterhand, S. 50–51.
[15] Siehe hierzu auch: Latour, Bruno (2018) Das terrestrische Manifest, Berlin: Suhrkamp.
[16] Stiegler, Bernard (2015) La société automatique. 1, L'avenir du travail, Paris: Fayard.
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