Blumen einer Erzählung
2022, Marion Eisele/Kunsthistorikerin, Düsseldorf
„Am Montag oder Dienstag geht keiner ran, am Dienstag oder Mittwoch geht einer ran oder ruft zurück. Am Donnerstag könnte man sich entgegenkommen. Die Ewigkeit wird vorweggenommen.“
Verbindungsprobleme, Unsicherheiten, Versäumnis, Zögern, Warten – schon der Weg bis zu einem Rendezvous ist meist eine hochsensible Angelegenheit. Und die Verabredung erst recht: sie besitzt durch die leisen und lauten Empfindungen der Protagonist*innen eine einzigartige, feinfühlige Stimmung. Hinzu kommt das Hintergrundrauschen der Umgebung.
In einer kleinen rechteckigen Vase auf einem Tisch vor einem Vorhang steht der frische Zweig einer Glockenblume mit fünf perfekten Blüten. Der englische Titel von Thyra Schmidts grob gerasterten, monochrom eingefärbten Fotografie dieses Arrangements ist der zitierten Passage aus der zweisprachigen Texttafel entlehnt: On Monday or Tuesday no one answers. Manchmal gesellen sich zu der Aufgeregtheit, der Verlegenheit und den weiteren gefühlvollen Schwingungen Kommunikationslücken, Uneindeutigkeiten und Abweichungen bei der Übersetzung. Jede (Bild-)Sprache besitzt eine eigene Klangfarbe, jede Translation eine „doppelte Bindung“: an die Eigenheiten der Ausgangssprache einerseits und an jene der Zielsprache andererseits.
Wie das Blumenportrait mit den skizzierten Begebenheiten genau in Verbindung steht, wird nicht ausformuliert. Die Künstlerin lässt uns selbst entscheiden, ob die Campanulaceae, wie die ‚kleine Glocke‘ in dem lateinischen Fachbegriff heißt, nur „stille Beobachterin“ der beschriebenen Interaktionen ist oder eine Art repräsentatives Objekt für die mehr oder minder geglückten Telefonate. Oder ist ihre Anwesenheit vielleicht sogar konstitutiv für die Szenen?
Die Blumenbouquets bilden zusammen mit der Texttafel elle, die insgesamt 24 selbstverfasste knappe Momentaufnahmen schriftlich wiedergibt, die elfteilige Siebdruckserie Rendezvous und damit eine mehrstimmige Einheit aus zarten Impulsen. Geradlinige Ereignisstränge lösen sich darin in Fragmente auf, in Episoden aus unterschiedlichen durchaus auch ambivalenten Perspektiven. Die von Thyra Schmidt eingesprochene Tonspur von elle schafft im Ausstellungskontext hörbar eine weitere Wahrnehmungsebene der enigmatischen Zusammenhänge.
Blumen sind nicht nur schön anzusehen, man sagt ihnen nach, Gefühle und Botschaften zu vermitteln. Damit die Glockenblume jedoch als Symbol für beispielsweise „Zusammengehörigkeit und Einigkeit“ oder für „Dankbarkeit und Anerkennung“ interpretiert wird, bedarf es spezieller Kenntnisse von Sender*in und Empfänger*in. Doch auch ohne dieses Wissen gilt grundsätzlich, dass Blumen als nonverbale Bedeutungsträger*innen in den diversen Kulturkreisen seit jeher eine Rolle spielen.
Im Neuen Reich des Alten Ägypten (1550 bis 1070 v. Chr.) etwa stand der Lotus für „Auferstehung und Regeneration“ – der Sonnengott wurde aus einer Lotusblüte geboren. Entsprechend ist sie schon damals ein häufig verwendetes Motiv, das sich unter anderem auf Grabmalereien im Zusammenhang mit Opfergaben finden lässt. Auch die Anfänge des Ikebana, der japanischen Blumensteckkunst, die ebenfalls im Zuge eines Gabenrituals – an die buddhistischen und schintoistischen Gottheiten – entstand, gehen weit bis ins 6. Jahrhundert zurück. Doch nicht nur als Zeichen des Opfers, der Anerkennung und des Reichtums, sondern auch als religiöses Sinnbild und besonders in der Motivik der vergänglichen Dinge sind Blumendarstellungen seit der Antike in der Kunst zu finden: Lilie, Akelei und Iris für die Reinheit Marias; das barocke Blumenstillleben als ‚nature morte‘ und Vanitas-Symbol. Die viktorianische Blumensprache, die heute noch als Referenz gilt, wenn es um (de)chiffrierbare Blumenbotschaften geht, entstammt einer orientalischen Tradition, welche die britische Schriftstellerin Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762) in Briefen von ihrer Türkeireise 1728 nach Europa distribuierte: die Haremsdamen kommunizierten mithilfe von bestimmten Blumenarten mit der Außenwelt.
Three lovers. Drei Rosenzweige unterschiedlicher Schnittlänge stehen aufrecht in einer Karaffe, wieder vor dem Vorhang, jedoch näher an den Rand des Tisches gerückt. Dieses Mal ist der Titel der in Orangerot gefärbten Fotografie nicht eindeutig einer Textpassage zuzuordnen. Vielleicht gehören die „drei Liebenden“ zu dem Intermezzo „Eifersüchtige Blicke im Raum“? Schließlich tragen die Blumen der Liebe auch immer Dornen.
Die sprachlichen Schilderungen stehen mit den Blumenportraits in einer unauflösbaren Beziehung. Diese spielt mit Assoziation und Illustration, lässt sich jedoch keinesfalls darauf reduzieren. Wie die Sätze, die in der Gegenwart geschrieben sind, aber wie ferne oder fremde Erinnerungen in Bruchstücken auftauchen, wohnt auch den Fotografien eine gewisse Distanz inne, die sich aus der Abstraktion durch die Rasterung und der Einfärbung ergibt. Die gewählten Lichtsituationen und Kompositionen variieren mit jeder neuen Blume und jedem neuen Gefäß. Doch stets weist der zugezogene Vorhang in den Innenraum zurück.
Ein kleiner, dichter Bund kurzstieliger Nelken, wie an einem strahlenden Sommertag frisch aus dem Garten gepflückt und in ein einfaches Trinkglas gestellt, wurde schräg von oben abgelichtet. Betitelt ist das blass bordeauxrote Blatt mit 10, 9, 8, 7, ... – als seien die blühenden Tage schon angezählt.
So spiegeln im Dickicht der Bedeutungsebenen und Interpretationen die Schnittblumen vielleicht besser als Worte die Untertöne der persönlichen Kommunikation. Empfindungen und Gemütszustände gehen schließlich weniger auf logische Argumentationen und objektive Kausalketten zurück, denn vielmehr auf Wahrnehmung und Auslegung.
„Komm! – sagt das Kind zur Marionette und ergreift eine Hand. Die Fäden haltend folgt der Puppenspieler den beiden“, lautet eine weitere Textstelle der kunstvollen Prosa. Oder an anderer Stelle: „Gespräche dringen durchs halb geöffnete Fenster. Kinder verstecken im Keller ihr verkohltes Maskottchen.“ Auch die nichtlebendigen Dinge sind bedeutsam für unser Seelenleben und unsere Bindungen. Geliebte Alltagsobjekte drücken Emotionen und insbesondere Zuneigung aus.
Thyra Schmidts präzise formulierte Sequenzen haben erzählerische Momente, ohne jedoch tatsächlich eine ganze Geschichte zu schildern. Vielmehr evozieren sie Bilder in unseren Köpfen und reizen unsere emotionalen Rezeptoren, so dass aus wenigen Worten ein Gefühl oder eine Erinnerung hervorgerufen werden kann oder sich ein ganz persönlicher Film abspielt – je nachdem, wie sehr wir uns in den Zeilen wiederfinden und wie viel Zeit wir mit diesem Rendezvous verbringen.
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Blumen einer Erzählung
2022, Marion Eisele/Kunsthistorikerin, Düsseldorf
„Am Montag oder Dienstag geht keiner ran, am Dienstag oder Mittwoch geht einer ran oder ruft zurück. Am Donnerstag könnte man sich entgegenkommen. Die Ewigkeit wird vorweggenommen.“
Verbindungsprobleme, Unsicherheiten, Versäumnis, Zögern, Warten – schon der Weg bis zu einem Rendezvous ist meist eine hochsensible Angelegenheit. Und die Verabredung erst recht: sie besitzt durch die leisen und lauten Empfindungen der Protagonist*innen eine einzigartige, feinfühlige Stimmung. Hinzu kommt das Hintergrundrauschen der Umgebung.
In einer kleinen rechteckigen Vase auf einem Tisch vor einem Vorhang steht der frische Zweig einer Glockenblume mit fünf perfekten Blüten. Der englische Titel von Thyra Schmidts grob gerasterten, monochrom eingefärbten Fotografie dieses Arrangements ist der zitierten Passage aus der zweisprachigen Texttafel entlehnt: On Monday or Tuesday no one answers. Manchmal gesellen sich zu der Aufgeregtheit, der Verlegenheit und den weiteren gefühlvollen Schwingungen Kommunikationslücken, Uneindeutigkeiten und Abweichungen bei der Übersetzung. Jede (Bild-)Sprache besitzt eine eigene Klangfarbe, jede Translation eine „doppelte Bindung“: an die Eigenheiten der Ausgangssprache einerseits und an jene der Zielsprache andererseits.
Wie das Blumenportrait mit den skizzierten Begebenheiten genau in Verbindung steht, wird nicht ausformuliert. Die Künstlerin lässt uns selbst entscheiden, ob die Campanulaceae, wie die ‚kleine Glocke‘ in dem lateinischen Fachbegriff heißt, nur „stille Beobachterin“ der beschriebenen Interaktionen ist oder eine Art repräsentatives Objekt für die mehr oder minder geglückten Telefonate. Oder ist ihre Anwesenheit vielleicht sogar konstitutiv für die Szenen?
Die Blumenbouquets bilden zusammen mit der Texttafel elle, die insgesamt 24 selbstverfasste knappe Momentaufnahmen schriftlich wiedergibt, die elfteilige Siebdruckserie Rendezvous und damit eine mehrstimmige Einheit aus zarten Impulsen. Geradlinige Ereignisstränge lösen sich darin in Fragmente auf, in Episoden aus unterschiedlichen durchaus auch ambivalenten Perspektiven. Die von Thyra Schmidt eingesprochene Tonspur von elle schafft im Ausstellungskontext hörbar eine weitere Wahrnehmungsebene der enigmatischen Zusammenhänge.
Blumen sind nicht nur schön anzusehen, man sagt ihnen nach, Gefühle und Botschaften zu vermitteln. Damit die Glockenblume jedoch als Symbol für beispielsweise „Zusammengehörigkeit und Einigkeit“ oder für „Dankbarkeit und Anerkennung“ interpretiert wird, bedarf es spezieller Kenntnisse von Sender*in und Empfänger*in. Doch auch ohne dieses Wissen gilt grundsätzlich, dass Blumen als nonverbale Bedeutungsträger*innen in den diversen Kulturkreisen seit jeher eine Rolle spielen.
Im Neuen Reich des Alten Ägypten (1550 bis 1070 v. Chr.) etwa stand der Lotus für „Auferstehung und Regeneration“ – der Sonnengott wurde aus einer Lotusblüte geboren. Entsprechend ist sie schon damals ein häufig verwendetes Motiv, das sich unter anderem auf Grabmalereien im Zusammenhang mit Opfergaben finden lässt. Auch die Anfänge des Ikebana, der japanischen Blumensteckkunst, die ebenfalls im Zuge eines Gabenrituals – an die buddhistischen und schintoistischen Gottheiten – entstand, gehen weit bis ins 6. Jahrhundert zurück. Doch nicht nur als Zeichen des Opfers, der Anerkennung und des Reichtums, sondern auch als religiöses Sinnbild und besonders in der Motivik der vergänglichen Dinge sind Blumendarstellungen seit der Antike in der Kunst zu finden: Lilie, Akelei und Iris für die Reinheit Marias; das barocke Blumenstillleben als ‚nature morte‘ und Vanitas-Symbol. Die viktorianische Blumensprache, die heute noch als Referenz gilt, wenn es um (de)chiffrierbare Blumenbotschaften geht, entstammt einer orientalischen Tradition, welche die britische Schriftstellerin Lady Mary Wortley Montagu (1689-1762) in Briefen von ihrer Türkeireise 1728 nach Europa distribuierte: die Haremsdamen kommunizierten mithilfe von bestimmten Blumenarten mit der Außenwelt.
Three lovers. Drei Rosenzweige unterschiedlicher Schnittlänge stehen aufrecht in einer Karaffe, wieder vor dem Vorhang, jedoch näher an den Rand des Tisches gerückt. Dieses Mal ist der Titel der in Orangerot gefärbten Fotografie nicht eindeutig einer Textpassage zuzuordnen. Vielleicht gehören die „drei Liebenden“ zu dem Intermezzo „Eifersüchtige Blicke im Raum“? Schließlich tragen die Blumen der Liebe auch immer Dornen.
Die sprachlichen Schilderungen stehen mit den Blumenportraits in einer unauflösbaren Beziehung. Diese spielt mit Assoziation und Illustration, lässt sich jedoch keinesfalls darauf reduzieren. Wie die Sätze, die in der Gegenwart geschrieben sind, aber wie ferne oder fremde Erinnerungen in Bruchstücken auftauchen, wohnt auch den Fotografien eine gewisse Distanz inne, die sich aus der Abstraktion durch die Rasterung und der Einfärbung ergibt. Die gewählten Lichtsituationen und Kompositionen variieren mit jeder neuen Blume und jedem neuen Gefäß. Doch stets weist der zugezogene Vorhang in den Innenraum zurück.
Ein kleiner, dichter Bund kurzstieliger Nelken, wie an einem strahlenden Sommertag frisch aus dem Garten gepflückt und in ein einfaches Trinkglas gestellt, wurde schräg von oben abgelichtet. Betitelt ist das blass bordeauxrote Blatt mit 10, 9, 8, 7, ... – als seien die blühenden Tage schon angezählt.
So spiegeln im Dickicht der Bedeutungsebenen und Interpretationen die Schnittblumen vielleicht besser als Worte die Untertöne der persönlichen Kommunikation. Empfindungen und Gemütszustände gehen schließlich weniger auf logische Argumentationen und objektive Kausalketten zurück, denn vielmehr auf Wahrnehmung und Auslegung.
„Komm! – sagt das Kind zur Marionette und ergreift eine Hand. Die Fäden haltend folgt der Puppenspieler den beiden“, lautet eine weitere Textstelle der kunstvollen Prosa. Oder an anderer Stelle: „Gespräche dringen durchs halb geöffnete Fenster. Kinder verstecken im Keller ihr verkohltes Maskottchen.“ Auch die nichtlebendigen Dinge sind bedeutsam für unser Seelenleben und unsere Bindungen. Geliebte Alltagsobjekte drücken Emotionen und insbesondere Zuneigung aus.
Thyra Schmidts präzise formulierte Sequenzen haben erzählerische Momente, ohne jedoch tatsächlich eine ganze Geschichte zu schildern. Vielmehr evozieren sie Bilder in unseren Köpfen und reizen unsere emotionalen Rezeptoren, so dass aus wenigen Worten ein Gefühl oder eine Erinnerung hervorgerufen werden kann oder sich ein ganz persönlicher Film abspielt – je nachdem, wie sehr wir uns in den Zeilen wiederfinden und wie viel Zeit wir mit diesem Rendezvous verbringen.
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